Das besondere Augenmerk des Kuratorenteams Buergel/Noack liegt dabei auf dem Aspekt der ästhetischen Vermittlung. So soll die gezeigte Kunst auch für BesucherInnen ohne spezielle Kunstexpertise erfahrbar sein, die Schwellenangst bildungsferner oder marginalisierter Gruppen möglichst abgesenkt werden. Konsequenterweise werden die Besucherführungen durch die d12 nicht mehr als reine Dienstleistung oder Weitergabe autorisierten Wissens verstanden. Dazu Roger M. Buergel:
„Die ästhetische Bildung beginnt vielleicht weniger mit dem Aneignen von faktischem Wissen als mit dem Einbringen der eigenen emotionalen und intellektuellen Ressourcen (…) die Bedeutung eines Kunstwerks ist nicht gegeben, sie muss immer wieder hergestellt werden in einem potenziell unabschließbaren Prozess, der vielleicht mehr mit Bereitschaft als mit Kennerschaft zu tun hat.“
Diese Bereitschaft voraussetzend, wartet die d12 mit einer eigenen Bildungsarchitektur auf: so genannte Palmenhaine, die als markierte Zwischenräume zu Kontemplation und Dialog einladen. Die ausgestellten Werke können dort gelobt und kritisiert, verdaut und verabscheut werden. Dem Ziel eines gemeinschaftlichen „Lernens“ verpflichtet (was sich zwangsläufig an den hierarchischen Gesten der kuratorischen Setzung reibt), setzt man auf ruhige Rückzugsorte und Haltepunkte im hektischen Ausstellungsbetrieb. Nochmals Buergel:
„An der Vermittlung scheiden sich die Geister; am Ethos der Vermittlung erkennt man den Unterschied zwischen einer bloßen Konsumhaltung und einem emanzipatorischen Anspruch. Hier unterscheidet sich die Ausstellung von Disneyland, vom Uniseminar, von der Diskothek, vom Louis-Vuitton-Shop. Oder sie unterscheidet sich eben nicht.“
Mitgebrachte Bilder, Werke im Dialog
Damit jedoch dieses Ethos der Vermittlung verfängt und Resonanzen zu erzeugen vermag, ist eine Art Alchemie erforderlich: die richtige Mixtur aus sinnlichen und intellektuellen Reizen, fordernden und entspannenden Momenten, die Bestätigung von eingeübten Sichtweisen sowie deren gezielte Ver-Rückung. Auch die politische Bildungsarbeit sucht ständig nach dieser Alchemie. Insofern setzt die Kooperation der d12 mit der Heinrich-Böll-Stiftung an der Schnittstelle von politischer und ästhetischer Bildung an.
Neben ihrer Tätigkeit im Rahmen der Besucherbetreuung haben die Kunstvermittlerinnen und -vermittler der d12 eigene Projekte initiiert. Dabei werden eigens dafür ausgewählte Gruppen zu einem documenta-Besuch aufgefordert, etwa Jugendliche, Arbeitslose, MigrantInnen, kranke oder behinderte Menschen. Im Zentrum des gemeinsamen Ausstellungsbesuchs steht der gegenseitige Wissenstransfer, d.h. dass die Gruppe sowohl Kenntnisse über die d12 seitens der Vermittler erhält, diese zugleich aber auch als aktiv Beitragende über ihre individuellen Bezüge „aufklärt“, „unterrichtet“, eigene Standpunkte und Sichtweisen mitteilt. Die von den BesucherInnen zur d12 „mitgebrachten“ Bilder treten nicht nur in einen Dialog mit den ausgestellten Kunstwerken, sondern auch in einen produktiven Austausch mit den Positionen der VermittlerInnen. Dabei entstehen vielfältige Assoziationen, Dissonanzen und neue Erfahrungen.
Bei diesem Experiment geht es immer auch um die Frage, ob die Beschäftigung mit zeitgenössischer Kunst Menschen Anstöße zur Reflexion ihrer spezifischen Lage geben kann. Kann sie gar dazu beitragen, eine neue Optik einzuschalten, mit einem veränderten Blick auf zuvor Übersehenes, politisch nicht Behandeltes, hinzuweisen? Insbesondere dann, wenn Kunsterfahrung „demokratisiert“ wird – also institutionelle Zugangsvoraussetzungen und Diskursverknappungen wegfallen – scheint uns dieses Potenzial gegeben zu sein.
Empowerment oder Selbstbildung?
In einem Gespräch, das lange vor der d12 stattfand, hat Roger Buergel für eine Verknüpfung von partikularer Identitätspolitik und universaler Verbindlichkeit plädiert. Dieser Hinweis ist wichtig, weil er auf strukturelle Defizite verweist, wie sie in der im Kunstkontext geführten Debatte um Repräsentation und Teilhabe von Minderheiten insbesondere in den 90er Jahren immer wieder zu beobachten waren.
So wurden bestimmte soziale Gruppen oftmals nur dann ins Spiel gebracht, wenn es darum ging, ein bestimmtes Thema mit einer genuinen „Zuständigkeit“ oder Authentizität auszustatten. Bestimmte Betroffenheitslagen (etwa von MigrantInnen oder Queer-Aktivisten) generierten bestimmte Issues und künstlerische Positionen, für deren „richtige“ oder „emphatische“ Aneignung wiederum nur Mitglieder der eigenen Community vorgesehen waren. Dieser geschlossene Zirkel der Produktion und Bewertung rief schnell die Gegner einer Political Correctness auf den Plan und mündete schließlich in einen pauschalen Backlash gegenüber jeglicher „inhaltistischen“ Kunstpraxis. Auch wenn sich die Gemüter inzwischen etwas abgekühlt haben, zeigt der internationale Kunstmarkt als offensichtliche Gegentendenz nun eine starke Neigung zu formalistischer Verspieltheit und stilistischer Grandezza. Identitätspolitik und Repräsentationskritik gelten gemeinhin als out.
Dabei lag das Problem der identitätspolitischen Kunst nicht in ihrem Beharren auf bestimmten Themen (Repräsentation, Macht, Differenz, Ausgrenzung, Migration, Rassismus etc.), sondern vor allem in dem Vertrauen, was ihre Wirkung anbetraf. Von der Beschäftigung mit der eigenen Ausgeschlossenheit oder Unsichtbarkeit und der Verständigung mit Gleichbetroffenen erhoffte man sich in erster Linie „Empowerment“, also eine Form der Selbstermächtigung. Das Ziel einer solchen Selbstermächtigung blieb oftmals jedoch merkwürdig unbestimmt: Ging es „nur“ um einen kommunitären Findungsprozess oder „schon“ um politische Beteiligung in existierenden Machtstrukturen? Handelte es sich bei Empowerment eher um eine Mobilisierungs- oder eine Befriedungsstrategie (gleichsam die Einhegung von Konfliktpotenzialen qua Kunst)? Und sollte damit eher externe Anerkennung gesammelt oder intrinsische Motivation erreicht werden?
Diese ungeklärten Fragen in Bezug auf Empowerment-Strategien haben für die Gespräche zwischen den VertreterInnen der d12 und der Heinrich-Böll-Stiftung im Vorfeld der Ausstellung eine wichtige Rolle gespielt. Beide Kooperationspartner interessiert der lange und unter Umständen komplizierte Prozess, bei dem die individuelle Selbstwahrnehmung, die gesellschaftliche Perspektive und die ästhetische Erfahrung eine neue Verbindung eingehen, im Glücksfall sich sogar politisch artikulieren. Unser Vorschlag wäre, diesen unsicheren, tastenden Weg als „Selbstbildung“ zu bezeichnen – ein freiwilliges Lernprogramm mit sich und mit anderen, um den Möglichkeitssinn zu erweitern und Handlungsspielräume zu eröffnen. Wir sind gespannt, welche Eindrücke und Einsichten wir aus dem hunderttägigen Experiment in Kassel mit nach Hause nehmen können.